Dienstag, 28. April 2009

schmerz ist unvermeidlich...

...leiden ist ein option“, zitiert haruki murakami einen ungenannten amerikanischen läufer. diese worte, schreibt der japanische schriftsteller, habe der mann seinem bruder als ein art mantra für die langen distanzen mitgegeben. murakami, selbst läufer, schreibt weiter, dieser satz umreisse den „hauptaspekt des marathons“: da keiner der qual entgehen kann bleibt jedem nur die entscheidung, ob er sie ertragen will oder nicht.

nun, ich laufe auch, längst nicht soviel und so weit wie murakami, aber ich laufe und ich lese vom laufen und anderen läufern und da bleiben solche sätze natürlich hängen. ohne einen marathon gelaufen zu sein oder auch nur ernsthafte gedanken daran zu haben, dachte ich auf einer neuen runde so etwa ab kilometer neun nach einer ungeplanten, annähernd zwei kilometer langen verirrung (der ersten und längsten von – trotz streckenplanung und karte - dreien ; man könnte mich in einer einbahnstraße aussetzen und ich würde mich verlaufen) länger über die worte und murakamis schlußfolgerung nach, dass dem unvermeidlichen nur entgehen könne, wer das langstreckenlaufen ganz läßt; sonst hatte ich ja nichts zu tun.

die zweite verirrung

interessanterweise konnte ich, als es wirklich schlammig und steil wurde (die zweite verirrung) mit dem satz durch direkte ansprache günstig auf die befindlichkeit meiner schwerer werdenden beine einfluss nehmen, die sorge vor einem stolpern über äste oder steine durch gelassenheit austauschen und die füsse sicher setzen.

an dieser stelle muss ich anmerken, dass meine größte bewunderung für den schriftsteller murakami um die für den läufer gewachsen ist, nachdem ich sein buch "wovon ich rede, wenn ich vom laufen rede" gelesen hatte. es ist von anderer qualität als "mein langer lauf zu mir selbst" von joschka fischer und das in zweifacher hinsicht - literarisch und sportlich. aber lassen wir das und kommen zurück zu dem finalen satz vom schmerz und der leidensoption.

die dritte verirrung

da ich weder marathon- noch ultra-läufer bin sind meine erfahrungen sicher unbedeutend. dennoch lieh ich mir diesen satz, der mich gepackt hatte, machte ihn mir zu eigen und da, so bei kilometer 12 (die dritte verirrung), wieder bergauf und durch die tiefen furchen schwerer forstfahrzeuge, kam mir ein gedanke, den ich in aller bescheidenheit als eine mögliche interpretation in die diskussion einbringen möchte: wenn es gelingt, das unvermeidliche als teil der aufgabe zu begreifen, dann gibt es die option, schmerzen und anstrengungen anzunehmen, ohne zu leiden. so wie etwa niederlagen im spiel einen nicht geringen teil des reizes ausmachen, und das spiel für den nicht mehr spiel ist, sondern etwas anderes wird, der immer gewinnt.

am ende seines buches schreibt murakami: „mit den jahren, in denen ich einen wettkampf nach dem anderen absolviere, werde ich am ende einen ort erreichen, an dem ich zufrieden bin. oder vielleicht erhasche ich ja auch nur einen blick darauf.“

befreiende läuterung

was er nun wieder damit meint, davon bekam ich eine ahnung nach fast 20 kilometern, rund 340 höhenmetern bergab und 340 metern bergauf und einer zweiten, verblüffenden erfahrung. dank der länge des laufs drang ich in den hinteren teil der playlist meines mp3-spielers vor und zu einem bislang ungehörten titel aus dem album "22 dreams" von paul weller. ob er auch läufer ist weiß ich nicht, aber er lieferte eine stimmige aussage zum thema, die mich über die letzten meter trug: kurz, treffend und von schlichter schönheit: shalalallalaa.

Freitag, 24. April 2009

erfüllende prognosen

dax und dow im plus, die schlagzeile "stimmung bei unternehmen deutlich verbessert" - so empfing mich mein browser heute morgen. endlich mal eine gute nachricht, dachte ich mir, und auch die börsen gehen nach oben, ist ja toll. in der zeitung hatte noch etwas gestanden von sechs prozent minus-wachstum (heißt das dann nicht eigentlich schrumpfung?), sozialen unruhen und das alles noch viel schlimmer wird. von den analysten, den wirtschaftsweisen war da allerdings auch zu lesen, von ihren irrtümern und wie sie sich in negativ-voraussagen überbieten, von nobert walter, chefvolkswirt der deutschen bank etwa.

nun frage ich mich ja schon auch, wie unabhängig ein dem unternehmen verpflichteter leitender angestellter eines geldhauses sein kann, der in der banken-, finanz- und wirtschaftskrise als ebensolcher prognosen abgibt. schließlich nimmt er damit einfluß auf die märkte (denn er ist ja nicht irgendwer) und damit auch auf die geschäfte der bank, die sein gehalt bezahlt (den prognosejob macht er übrigens seit 35 jahren, sagte er gerade dem stern; chapeau, irgendwer muß ja sehr zufrieden mit ihm sein).

es ist aber auch vertrackt: die börsenkurse, in denen investoren die entwicklung der unternehmen vorwegnehmen, steigen, es wird geld verdient, die stimmung in den unternehmen verbessert sich - und trotzdem schreiben walter und co. in feuerschrift böses an die wand und die menschen denken achduliebezeit, halten ihr erspartes zusammen, haben angst um ihren arbeitsplatz und vermeiden freiwillig und verantwortungsbewußt alles, was den wirtschaftsstandort deutschland nach ansicht der wirtschaftsweisen gefährdet.

wer hat da bloß was davon und wer hat nun recht und was wird geschehen? vielleicht sollte ich mal norbert walter fragen; andererseits - was habe ich von der antwort zu erwarten? ganz schön kompliziert...

p.s: am nachmittag dann das:

"ifo-index steigt - abschwung geht weiter", so zitiert spiegel-online experten.

tja, wohl zu früh gefreut...

hinter dunklen eingängen

es gibt in meinem beruf momente der dunkelheit. wir gelangen hinter sonst verschlossene türen, sind dabei, wenn andere längst gegangen sind, sehen zu, wenn andere die augen schließen; wir erfahren details, die wir verschweigen müssen, die zu kennen aber wichtig ist um zusammenhänge zu verstehen, motive. oft wissen wir, welche bilder uns an einem drehort erwarten, manchmal nicht und manchmal kommen die bilder zu uns.

einen solches bild sah ich in der vergangenen woche: ein junge spiegelt sich in der nahaufnahme der iris eines mannes, weinen ist zu hören. diese kurze sequenz fand ich im archivmaterial beim schnitt eines beitrags zum thema kinderpornographie.

fünf internetprovider sperren freiwillig die seiten mit solchen inhalten; am mittwoch beschloss das bundeskabinett, dieser maßnahme einen gesetzlichen rahmen zu geben. niemand wird also künftig zufällig auf eine solche seite kommen, niemand der aus kruder neugier diese bilder sucht sie ohne umwege problemlos finden. das ist gut, denn opferschützer wie ursula enders von zartbitter in köln haben mir erzählt von der fortgesetzten traumatisierung der opfer, wenn sie wissen, dass die bilder ihrer qual immer wieder betrachtet werden und niemals komplett gelöscht werden können.

was wird verhindert?

wird aber auch nur eine vergewaltigung, eine misshandlung verhindert, weil der deutsche "markt" zusammengebrochen ist? daran zweifeln auch vertreter der ermittlungsbehörden, mit denen ich sprach. pädokriminelle tauschen ihre bilder und filme nicht im www sondern in konspirativen tauschbörsen, zu denen sie ihre computer vernetzen. diese strukturen aufzubrechen und hintermänner bis zu denen, die vor den kameras mißhandeln zu ermitteln - da bedarf es komplexer internationaler polizeiarbeit.

so warnen denn auch kinderschützerinnen wie julia von weiler von innocence in danger, die ich für den beitrag interviewte: diese entscheidung, sagt sie, ist ein schritt, aber sie gibt das falsche signal, wenn sie als erfolg im kampf gegen kindesmißbrauch mißverstanden wird, wenn sie der öffentlichkeit das gefühl vermittelt, es sei ja nun etwas getan, prima, nächstes thema.

einfach nur zu einfach

kann man es aber nicht auch so sehen: der staat macht es sich zu einfach, er kapituliert. statt fahndungabteilungen personell und technisch adäquat auszurüsten, die straftaten zu verfolgen, die server ausfindig zu machen und stillzulegen, werden verbotsschilder aufgestellt, dunkle eingänge zugemauert - aber die strasse ist gefegt, die fassaden sind gestrichen, schön, nicht!? was im hinterhof geschieht - wer sieht noch hin?

es ist ähnlich wie beim rauschgift-handel auf dem spielplatz. dealer und käufer werden aus dem blickfeld verdrängt, das "subjektive sicherheitsgefühl des bürgers" (ein begriff aus der polizei-praxis) wächst, alle sind zufrieden. gedealt wird weiterhin, aber niemand sieht`s. schöne erscheinung am rand: die statistik wird viel besser, denn fälle von drogenhandel gibt es nur noch, wenn die polizei gezielt ermittelt. aus der augenfälligen straftat, die jeder beobachtete und die die polizei verfolgen muß, wurde ein sogenanntes kontrolldelikt. so, das befürchten einige, geht es auch mit der kinderpornographie.

etwas anderes aber wird erreicht: erstmals wird ein instrument der zensur in deutschland zugelassen. es könnte kaum bitterer sein, aber auf die gleiche weise wie die deutschen internetprovider kinderpornographie, sperren chinesische zensurbehörden die seiten tibetischer aktivisten, von amnesty international oder der ausländischen presse.

und wie nun weiter?

der vergleich könnte politisch kaum inkorrekter sein und doch muß man es vergleichen denn beides geschieht auf der im jeweiligen staat gültigen rechtsgrundlage; und die unterliegt - hier sogar noch mehr als in fernost und wenn der begriff unserer repräsentativen demokratie geziemt - der mode..

nun, da das tabu gebrochen ist, könnten begehrlichkeiten geweckt werden. man könnte ja auch ganz andere internetseiten sperren im kampf gegen den terror, gegen fremdenfeindlichkeit, gegen gegner der freiheitlich demokratischen grundordnung, gegner der regierung... hoppla!
es bedarf nur einer kampagne, einer stimmung, einer mehrheit und schon wird die grenze neu gezogen. zu pessimistisch? hoffentlich.

das bild des kindes auf der iris eines mannes, die spiegelung eines computerbildschirms - nach meinem ersten schrecken sah ich, dass es ein kollege war. darauf angesprochen sagte er mir, das er diese szene mit einer harmlosen privaten video-sequenz inszeniert hatte, das weinen kam vom band.

so einfach sind die lösungen aber nicht immer


der beitrag in der aktuellen stunde ist hier zu sehen.

zu den betreffenden seiten des bundesfamilienministeriums geht es hier

eine ausführliche und vielschichtige dokumentation von spiegel.de gibt es hier

Dienstag, 21. April 2009

zwei bilder...

...von denen eines neu ist, nämlich dieses, das andere alt, nämlich dieses; ein bad im schäumenden, schmutzigen fluß, ein bad in milch. ein bild aus einem schwellenland, ein bild aus einem industrieland.

alles gesagt

Montag, 20. April 2009

selbstgemacht, garantiert!

analog beschreibt etwas vergleichbares, funktionsgleiches in völlig anderer zusammensetzung, mit anderem inhalt und anderer struktur, es ist ein an-stelle-von und damit sind wir beim käse. analog-käse ist eine mischung aus wasser, eiweiß, pflanzenfetten, mitunter etwas echtem käse wegen der bakterien und geschmacksstoffen. nach kurzer zeit sieht die mischung aus wie käse, riecht wie käse, schmeckt ähnlich wie käse und verhält sich im pizzaofen oder beim überbacken sogar deutlich gutmütiger, weil das produkt hohe gartemperaturen besser verträgt und beim erhitzen nicht rot oder braun wird. und "er schmilzt besser", zitiert das bäko-magazin den vertriebsleiter einer bäckerei-kette.

und nun kommt`s: analog-käse kostet kaum die hälfte.

spätestens jetzt sagen wir: ach du liebe zeit, igitt, nee, meine pizza ess ich nicht! an analog-käse ist aber eigentlich nichts ekliges. gesundheitlich sind analog-gouda, -edamer,-mozzarella oder -schafskäse genauso unbedenklich wie das gleiche produkt vom wiederkäuer (wenn die milch ordentlich verarbeitet wurde). die industriell gefertigten beläge gehen möglicherweise sogar durch weniger hände bis zum verbraucher (lebensmittelkontrolleure wissen, welche bedeutung das haben kann).

außer food-designern oder fortschrittsbegeisterten naturwissenschaftlern würden die meisten konsumenten allerdings sicher erstmal zucken, wenn da "pizza analog" oder "mit käseimitat" auf der speisekarte stünde. so müßte es allerdings eigentlich sein, sagte mir christina blachnik, lebensmittelkontrolleurin in duisburg bei meinen recherchen. mag sein, dass mancher imbißbetreiber selbst gar nicht weiß, dass die tüte mit dem geriebenen gastro-mix im großmarkt-kühlregal gar keinen käse nach käseverordnung (100% milch) enthält. er liest vielleicht gar nicht das etikett mit den zutaten, sondern freut sich nur über den guten preis. dann, irgendwo auf dem weg zur fertigen pizza, der käsestange oder dem auflauf, geht die information verloren.

und nun kommt`s schon wieder: über deren guten preis freuen wir uns auch und spätestens hier hören wir verbraucher gemeinhin auf zu denken.

was immer, wann immer

"formvorderschinken spalla cotta" mit 51 % schweinefleisch und der rest substanzen die schnittfest aushärten? wir essen den teigfladen, auf dem die scheiben liegen; ein döner für drei euro, an dem tierzüchter, metzger, großhändler, bäcker, gemüsebauer und imbissbetreiber verdienen - wir fragen nicht wie das geht sondern sind entzückt und nehmen extra scharf.

so recht möchte ich nicht glauben, dass ein pizzaservice mit dem versprechen "unsere pizzen enthalten nur ausgewählte hochwertige zutaten ohne industrielle ersatzstoffe" auf dauer erfolg hätte, denn er müßte wohl deutlich teurer sein als die konkurrenz oder es wäre weniger drauf. wir selbst schaffen also durch unsere art der nachfrage nach billig-produkten die notwendigkeit, lebensmittel-analogien einzusetzen. was wir mögen wollen wir immer und besonders preiswert, damit wir es uns immer leisten können und nicht nur an einigen, vielleicht besonderen tagen (was übrigens wahrscheinlich sogar gesünder wäre). da bleibt das aufgeklärt kritische ganz entspannt auf der strecke und der geschmack für den echten geschmack sowieso.

die aufregung um die analog-produkte ist allerdings in einer hinsicht berechtigt: die authentische kennzeichnung ist eine pflicht; wir verbraucher müssen erfahren, was uns aufgetischt wird. woran ich allerdings meine zweifel habe ist, dass wir das immer wissen wollen - oder hat inzwischen jemand seinen pizzabäcker gefragt?

der fernsehbeitrag ist noch bis zum 9. mai hier zu sehen.

Donnerstag, 16. April 2009

gut gemeint, wohl

bei der staffelausschreibung zum rhein-ruhr-marathon heisst es: "Es werden eine Männer-, Frauen- und Mixed-Staffel-Wertung durchgeführt. Als Mixed-Staffel gelten solche Staffeln, die wenigstens zwei Läuferinnen aufweisen."

wenn es ein wenigstens gibt, gibt es mitunter auch ein höchstens und wenn es ein wenigstens und ein höchstens gibt, dann gibt es eigentlich auch etwas dazwischen, so eine art komfortzone.

nun besteht eine staffel, lese ich etwas weiter oben, aus vier menschen, eine mixed-staffel kann also auf keinen fall aus drei läufern und einer läuferin bestehen, denn dann wäre sie, der wenigstens-zwei-läuferinnnen-regel folgend - wahrscheinlich - eine männerstaffel, sicherlich aber keine frauenstaffel. doch gilt dagegen eine staffel mit drei läuferinnen sowie nur einem läufer wohl automatisch als mixed-staffel, denn es laufen mehr als wenigstens zwei frauen. ist dann am ende eine staffel mit vier läuferinnen aber ohne läufer die höchste form aller mixed-staffeln - oder ist sie einfach keine männerstaffel? was aber ist dann eine frauenstaffel, gibt es sie überhaupt und wenn ja: wer muss da mitlaufen? und wieviele?

denkbrot für viele kilometer an rhein und ruhr...

zur ausschreibung geht`s hier

Montag, 13. April 2009

wert zu bewahren

es gibt, sagte einmal ein ehemaliger polnischer ministerpräsident, weltweit nur eine organisation, die ein geheimnis sicher verwahren kann, die katholische kirche.

delbrück bei paderborn kannte ich bislang nur als herkunftsort eines neuen sportwagens. und namensvetter eines kölner stadtteils. meistens eher spöttisch sprechen die rheinländer von den westfalen, und das die menschen in der umgebung von paderborn noch etwas spezieller sind, sagt ganz sachlich eine kollegin, die wie ein anderer kollege „von da wech“ ist und der, kommen wir bei einer unterhaltung auf seine heimat, in einem eigenartigen dialekt zu sprechen beginnt.

bei den recherchen für einen beitrag von einer karfreitags-prozession fand ich einen artikel über delbrück. seit 1674 gibt es dort passionsspiele, inzwischen reduziert auf die kreuztracht, das eigentliche tragen des kreuzes. was mich allerdings aufmerken ließ: der träger des rund 50 kilo schweren kreuzes bleibt anonym, sein gesicht ist von einer drahtmaske verborgen, auf welche die gesichtszüge christi gemalt sind, ein bart geklebt ist und die zwei männer, kreuzbegleiter genannt, gemeinsam mit perücken und gewändern nur einmal im jahr für die stunden der prozession aus ihrem aufbewahrungsort holen. Der kreuzträger, so stand es in dem artikel, sei - meist - ein mitglied der gemeinde, das mit der passion buße für eine begangene sünde tun möchte. Seine identität sei allein dem pfarrer und eben den beiden männern bekannt, die ihm und einem anderen, der simon von cyrene darstellt (der bauer, der von den römern gezwungen wurde christus beim tragen des kreuzes zu helfen), beim ankleiden helfen.


anonyme buße vor der kamera?

beiträge entstehen zunächst im kopf und die beichte eines reuigen sünders, gleichwohl auch für den fernsehzuschauer anonym, vor der kamera in verbindung mit den bildern von der prozession, das wäre doch ein guter film; falls dieser kreuzträger nicht möchte findet sich vielleicht ein mann, dessen passion schon länger zurückliegt und der uns davon erzählt; vielleicht könnte ja auch einer der kreuzbegleiter erzählen von den ungewöhnlicheren karfreitagsprozessionen, den ungewöhnlicheren büßern und was aus ihnen wurde, anonym natürlich, das müßte doch gehen. ideen, die ein weltlicher journalist eben so hat.

der pfarrer hörte sich ruhig meine vorschläge an, wir vereinbarten ein gespräch am nächsten tag. seine antwort war ebenso ruhig wie seine aufmerksamkeit am vortag: sie wollten die anonymität wahren, sie sei nicht nur ein lässlicher, vielleicht romantischer teil der tradition sondern ein tragendes element des ritus, von entscheidender bedeutung nicht nur für den kreuzträger und dessen helfer sondern auch für die menschen, die an der prozession teilnahmen. die freundliche aber auch sichere art wie er dies sagte machte mir klar, dass die antwort wohlüberlegt war, abgewogen und konsequent. es gab da keinen raum für kompromisse. vielleicht ist es das, was meine kollegin meinte, wenn sie über die menschen in der region sprach.

diese klarheit mag dem oben erwähnten rheinländer unerträglich sein; die fähigkeit zur finalen festlegung ist es vielleicht, die ihm den westfalen unheimlich erscheinen lässt und die scherze sind pfeifen im walde. diese klarheit hat aber vor allem etwas entlastendes, klärendes. sie markiert einen punkt, von dem aus es verlässlich weitergeht. in delbrück war klar: sie sind willkommen - aber das sind die bedingungen.

ein elementares ereignis

wir haben sie akzeptiert. den darsteller christi, den des simon – wir haben sie nie ohne verkleidung gesehen, wir haben kein wort mit ihnen gesprochen. freundlich haben die kreuzbegleiter uns von den männern ferngehalten, über deren motive wir auch nichts erfahren haben.

und allein auf diese weise erahnte ich, was diese passion zu einem so elementaren, für einige gläubige, mit denen ich sprach, sogar erschütternden ereignis werden läßt. zu wertvoll, um es für einen einmaligen effekt der profanen neugier zu opfern. der unbekannte mensch, der sich in der wärme des frühlingstages sichtbar unter der last schindet, dessen schritte schwer sind, der manchmal nur mühsam die balance hält, dessen tiefes atmen zu sehen ist, dessen leib zittert an den stationen des kreuzwegs – er kann allein durch seine anonymität projektionsfläche für viele sein, ein symbol für teile der eigenen existenz, eine frage, gestellt an jeden, der ihn da sieht, vielleicht auch eine anklage. der weg ist öffentlich, aber unter maske und gewand zugleich intim und geschützt. es gibt keine absolution – weder durch den pfarrer noch durch die menge, keine anerkennung, kein schulterklopfen.

vielleicht, wenn die mühe gewogen würde gegen das motiv, die sünde gegen die buße und die hoffnung gegen die tat, vielleicht wäre es dann wertlos, banale unterhaltung. so aber ist es echtes, aufrichtiges bemühen.

nach dem rund zweistündigen kreuzgang, den etwa 8000 menschen begleiteten, blieben die beiden männer noch kurz im pfarrhaus. gesprochen, erzählt der pfarrer, wird nicht viel, auch das vielleicht westfälisch; dann, wenn die anderen gläubigen längst weg sind, gehen sie still und ohne aufsehen durch einen nebeneingang wieder nach hause. wir waren da schon weg.

für die kommenden jahre hat er schon einige männer, die sich für den kreuzgang beworben haben. wenn er von der aufrichtigkeit ihres anliegens überzeugt ist, werden sie die tradition fortsetzen. wenige wochen vor der prozession wird er sich entscheiden und zwei von ihnen anrufen. Ob sie buße tun, dank sagen für widerfahrenes glück, für sich oder einen anderen um heilung bitten oder ihren glauben vertiefen wollen - das geheimnis ihrer passion wird er bewahren.


den beitrag gibt es hier zu sehen

die delbrücker kreuztracht ist nicht die einzige karfreitagsprozession dieser art in ostwestfalen; es gibt vergleichbare passionen auch in anderen orten, etwa in wiedenbrück.

Dienstag, 7. April 2009

uiuiui II und ein warum

für den einsatz der französischen polizei gegen die clowns in straßburg, so erfuhr ich am samstag bei der internationalen demonstration in kehl, gibt es eine rechtsgrundlage – zumindest in deutschland. es handelt sich um eine verordnung zu der kundgebung, die einer der koordinatoren vor beginn von einer bühne verkündete. Danach sind „pantomimische handlungen nur in einem abstand von 1,5 metern von den polizisten zulässig“, insbesondere solche mit „staubwedeln und“, sagte er mit wohlgesetzter pause, „klobürsten“. so, verkündete er den hörbar amüsierten demonstranten, stünde es in der verordnung.

es gab keine solchen aktionen in kehl also auch keine gegenmassnahmen. Es gab keine prügeleien, steinwürfe, festnahmen, verletzte, keine eingeworfenen schreiben und keine brennenden häuser und die im fernsehen von einer straßburgerin gestellte frage, warum es in frankreich dazu kam, ein paar hundert meter weiter aber, auf der anderen, der deutschen rheinseite nicht, diese frage stellte ich mir auch.

für eine fernsehsendung hatte ich eine von der partei die linke organisierte zugfahrt von etwa 800 demonstranten nach kehl begleitet. schon am bahnhof empfingen polizeieinheiten die friedensaktivisten; ältere, jüngere, linke, parteilose, deutsche, kurdische, türkische. die kleine gruppe der linksjugend aus dortmund, hatte sich die telefonnummern von rechtsbeistand, legal-team in deutschland und frankreich auf die unterarme geschrieben, falls die polizei ihnen taschen oder auch die handys wegnimmt. eigentlich eine klare sache - sie hier, die dort.

schließlich standen sie sich gegenüber, die etwa 6000 menschen im demonstrationszug, und einige züge der insgesamt 16000 polizisten, so die offiziellen angaben, die in diesem einsatzabschnitt eingeteilt waren. auf der europabrücke nach straßburg standen mindestens ebenso viele beamte. helme, schilder, protektoren. standen hinter drei wasserwerfern - deren rohre zeigten richtung frankreich; die trupps hatten sich hinter ihnen aufgebaut. demonstranten aus frankreich sollten am überqueren der brücke gehindert werden; eine wacht am rhein - irgendwie das falsche bild, fand ich, an diesem tag der großen bilder und ausholenden gesten.

auf der anderen seite

es hatte in straßburg ausschreitungen und verletzte gegeben. nachrichten, die über die lautsprecher auf dem wagen des organisationskomitees verkündet wurden und unruhe schufen. einige schwarz gekleidete junge demonstranten skandierten ein hoch auf die internationale solidarität, alle gemeinsam "1,2,3 - gebt die brücke frei", doch die beamten blieben stehen.

eine polizistin in zivil sprach mit sehr angenehmer stimme von der bislang friedlich verlaufenen demonstration und dass es doch gut wäre, wenn es so bliebe, sie erzählte vom stand der gespräche zwischen polizei-einsatzleitung und verhandlungsgruppe der demonstranten, die ja immer noch nach straßburg wollten. aus den lautsprechern der demonstranten kam die aufforderung an die polizei, der genehmigten demonstration platz zu machen für den weg über die genehmigte strecke. beamte in zivil mit westen, auf denen konfliktmanagment stand sprachen mit aufgebrachten menschen..

dann stieg die rauchsäule aus der in straßburg brennenden ehemaligen zollstation auf. es war klar, dass nun niemand mehr über die brücke durfte; "zur eigenen sicherheit", wie ein sprecher der deutschen polizei mir später sagte. das haus brannte lange, es brannte sogar sehr lange, vielleicht sogar auffällig lange, ohne dass gelöscht wurde. in einem zeitungsartikel las ich später, dass es ohnehin abgerissen werden sollte. nun, eine zollstation passt ja auch wirklich nicht mehr in die zeit des geeinten europa.

falsch, ganz falsch

der deutsche demonstrationszug wurde zurückgeleitet. rechts abbiegen zum ausgangspunkt statt links über die brücke. kurz sah es aus, als würde aus dem geschiebe und gedrücke an der spitze doch gewalt, aber es geschah nichts. einige demonstranten gingen, die meisten blieben. sie setzten sich nach einiger zeit auf die straße, die polizisten mußten stehen.

es war warm, es war in der sonne sogar heiß und es kam mir einen moment lang albern vor: warum, dachte ich, demonstrieren sie nicht da, wo sie es können, veranstalten eine kundgebung wo sie es dürfen und gehen dann nach hause, bevor irgendjemand auf welcher seite auch immer verletzt wird? dann aber wurde mir klar, warum dieser pragmatische ansatz wenn nicht sogar falsch so zumindest nicht angemessen war. mit den beamten aus hessen, schleswig-holstein, nordrhein-westfalen und sonstwoher und den demonstranten aus baden-württemberg, nordrhein-westfalen und sonstwoher standen sich zwei rechtspositionen gegenüber.

wer vermeintlich einsichtig und vielleicht sogar schnell nachgibt, gibt etwas auf - das grundrecht auf versammlungsfreiheit und freiheit der meinungsäußerung, das demonstrationsrecht in zeitlicher und örtlicher nähe zum objekt des widerspruchs sind ebenso bedeutend wie der polizeiliche auftrag, die innere sicherheit zu gewährleisten und gefahren abzuwehren.


beide seiten verteidigten da - das vielleicht sogar ein paradoxon der demokratie - ebendiese. und je länger sie sich friedlich gegenüberstanden, umso größer erschien mir der erfolg, für beide seiten. wahrscheinlich sind es solche widersprüche, die nie aufzulösen sein werden, die aber ausgehalten werden müssen und an denen sogar etwas wächst.

zwischen wasserwerfer und staubwedel

als dieses beharren andauerte, ging ich ans rheinufer, filmte den brand, die rauchsäule auf der anderen seite des flusses, die boote und hubschrauber, die deutschen polizisten, die nach frankreich vorrückten, der wasserwerfer, der schließlich begann, das zollgebäude zu löschen. immer noch saßen demonstranten in dieser zeit vor der polizeiabsperrung, auf der ladefläche eines lieferwagens hatte eine improvisierte kundgebung begonnen. die reihen waren lichter, die polizei entspannter, die helme abgesetzt.

kurz vor sechs machten sich die jungen leute aus nordrhein-westfalen auf den rückweg. die nummern der rechtsanwälte hatten sie nicht gebraucht und sie waren zufrieden, denn sie haben ihren standpunkt bezogen, auch wenn sie der polizei den vorwurf machen, sie behindert zu haben. kein stein war geflogen, niemand wurde festgenommen, kein clown mit tränengas eingenebelt

warum das so war, die antwort auf die frage der französin - mag sein, dass sie irgendwo zwischen wasserwerfer und staubwedel liegt.

den fernsehbeitrag gibt es hier zu sehen

bilder eingefügt am 14. april 09

Freitag, 3. April 2009

uiuiui

"In Straßburg", finde ich in einem bericht vom gipfeltreffen der nato am abend, "setzten Beamte nach Polizeiangaben Tränengasgranaten ein, um im Süden der Stadt Demonstranten abzudrängen. Die als Clowns verkleideten NATO-Gegner hatten die Beamten zuvor mit Handküssen und Staubwedeln provoziert. Die Gruppe der Protestler bestand aus mindestens 100 Personen. Nach Angaben französischer Medien wurden auch Wasserwerfer eingesetzt. Dort wurde die Zahl der Demonstranten mit bis zu 200 beziffert".

100 handküssende clowns, 200 gar, massenwedeln - was wohl wäre da abzustauben gewesen?

Mittwoch, 1. April 2009

reinzensiert

es war ein pling, ein glöckchen oder was auch immer. jedenfalls störte es mich und machte mich erst auf den song aufmerksam, der im hintergrund lief. das geräusch hatte den fluß von lily allens text in "the fear" unterbrochen und ich dachte: "ah, sie haben das f-wort durch einen sound ersetzt damit ich es nicht höre. aber das f-wort wäre doch zu kurz für das geräusch gewesen; hmh, es war bestimmt das f-wort als verb mit -ing."

nun bezweifle ich, dass ich das f-wort gehört hätte, es wäre wohl ohne weiteren schaden anzurichten einfach so an mir vorbeigerauscht. dank des akustischen signals aber habe ich das f-wort mehrfach gedacht, es im originaltext gelesen, den ich zu rate zog, um sicherzugehen und schreibe jetzt sogar darüber; wer hat nun was erreicht?

übrigens fällt mir bei dieser zensurform noch etwas anderes ein, nämlich eine verfremdende aneignung a´la ronald reagan. der sah allein das hymnische der titelzeile in bruce springsteens "born in the usa", und blendete das kritische einfach aus. es mag ziemlich dämlich daherkommen, aber geschadet hat es reagan nicht. es war wahrscheinlich sogar ziemlich clever. wer erinnert sich schon an den text vom bruder, der in vietnam starb, der weg ist, während der damalige feind immer noch da ist? eben.

und damit sind wir wieder bei den radio-geschmacks- und sittenwächtern; denn so gesehen erzeugt so ein kleines pling aufregung um das f-wort und leitet die aufmerksamkeit um und weg vom text; der aber ist es eigentlich wert, etwa hier gelesen zu werden; trotz und mit dem f-wort.

weeze, wilfried, winnenden

in der forschung wie und warum menschen wirken gibt es eine studie, die besagt, dass 58 prozent des eindrucks, den ein mensch auf mich macht, durch seine optische erscheinung verursacht werden, 35 prozent durch die art wie er mit mir spricht, ob langsam, gelassen und mit tiefer stimme oder schnell, aufgeregt und im diskant. lediglich sieben prozent macht das aus, was die person sagt. derjenige, der sich im optischen bereich unsicher fühlt, kann allerdings entspannt bleiben: irgendwann kehren sich die verhältnisse um.

es sind wenige sekunden (zehn bis 20) in denen wir uns auf unser äußeres verlassen können und bei unserem gegenüber archaische prozesse in jenen hirnregionen ablaufen, die nach freund/feind/futter unterscheiden, hektisch den katalog der maschen nach der aussichtsreichsten oder den der schnellen verabschiedungen nach der glaubwürdigsten durchforsten. ist diese zeit aber vorbei wird das gesprochene wort wichtig. so funktionieren wir eben, so funktionieren nachrichtensender und so funktioniert wilfried schmickler; deshalb ist er kabarettist, muss viel und ausdauernd reden, und brad pitt schaupieler und gönnt uns pausen.

wahnsinn vom feinsten

bei seinem letzten auftritt räsonierte er über die medien im fall winnenden. auch über eine junge frau. sie stand bei ntv live vor der kamera, da habe auch ich sie gesehen. neben einem gewissen mitgefühl ob der schweren aufgabe (auch solche emotionen erschafft unser gehirn binnen sekunden, manchmal) war ich aber auch neugierig zugeneigt; neugierig als zuschauer, der von der schrecklichen tat das neueste erfahren wollte, als kollege, der solche situationen, den druck und die probleme kennt, und zugeneigt wegen der erwähnten optisch generierten wirkung. als aber der satz: "das chaos hier ist vom feinsten" fiel und die junge frau (in meiner erinnerung mindestens zweimal) vom "wahnsinn" sprach, der in ihrem fall nicht tat oder täter beschrieb sondern die situation, die hektische polizei, die aufgeregten anwohner, den hubschrauberlärm, den aufmarsch der medien, also allgemein die situation rund um das schulgebäude, da nahm ich die fernbedienung und schaltete weg.

in solchen momenten geschehen gemeine dinge mit mir. ich beginne mich wie ein ertappter lügner zu winden, drücke meinen rücken tief in die sofakissen und verschränke die arme vor der brust. minutenlang möchte ich nichts sagen sondern nur weg, weg, weg. ein arger anfall von fremdschämen, wie es sonst nur gelegentlich talkshows schaffen.

wilfried schmickler schenkte mir mit seiner - berechtigten - empörung über diesen auftritt eine befreiende läuterung. gewissermaßen war ich ja mitschuldig geworden als zuschauer und mit seiner standpauke wusch er auch mich rein.

gestern abend las ich im blog eines jungen läufers vom strongmanrun 2009 in weeze. ein paar beiträge weiter unten berichtet er - so unvermittelt wie ein webtagebuch eben ist - von der amokdrohung an seiner schule am vergangenen freitag (27. märz). heute morgen dachte ich ans laufen, an den blog, mir fiel das verbrechen von winnenden wieder ein, die unglückliche junge frau und wilfried schmickler.

wie das jetzt wieder alles zusammenhängt - bestimmt gibt es auch dafür eine studie.


zum erwähnten blog geht es hier