Sonntag, 1. März 2015

Ausschlag

Mit mir sprach Karlheinz Köpke. Das war ein Sprecher der tagesschau, der Sprecher der tagesschau, es war 1965, ich war vier und eigentlich hätte das nicht sein dürfen, denn Karlheinz Köpke war nur auf einem Foto in einer Zeitschrift, die ich mir ansah, als ich mit Masern und hohem Fieber im Bett lag. Ich will mal glauben, dass die schwere Erkrankung bei mir keine nachhaltigen Folgen hatte, auch wenn mir meine Schwäche für Eiscreme mitunter pathologisch erscheint. Aber es waren wohl ernste Tage damals und außer an den sprechenden Karlheinz Köpke in der Zeitschrift erinnere ich mich noch an das sorgenschwere Gesicht meiner Mutter, die sehr oft und sehr lange an meinem Krankenbett saß, das hohe Fieber mit Wadenwickeln behandelte und den Ausschlag versorgte.

Zu der Zeit gab es aber noch eine andere Krankheit, die allgemein mehr Aufmerksamkeit bekam: Kinderlähmung. 1952 hatte es allein in Deutschland über 10 000 Krankheitsfälle gegeben und die Zahl derer, die sich neu infizierten, in Eisernen Lungen lange Zeit beatmet werden mußten oder nur an Krücken gehen konnten, nahm langsamer ab, als es möglich gewesen wäre. Gegen die Impfung mit der Spritze gab es bei vielen Vorbehalte. Den Durchbruch brachte die Schluckimpfung auf dem Zuckerwürfel. Die Zahl der Neuerkrankungen ging bis Ende der sechziger Jahre rapide zurück, die Impfkampagne ging weiter: Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam war der Slogan und auf dem Schulhof ärgerten wir uns mit Sätzen wie: das ist Dagmar, 12, nicht geimpft oder so.

Heute kommt Polio in Deutschland nicht mehr vor. Die Krankheit gilt als besiegt.  „Jeder“, sagt der Duisburger Kinderarzt Dr. Peter Seiffert, „kannte jemanden in seiner Verwandtschaft oder unter seinen Freunden, der auf irgendeine Weise betroffen war. Man sah die Kinder, die langzeitbeatmet werden mussten oder auf andere Weise behindert waren.“ Polio war eine sichtbare Bedrohung in der Öffentlichkeit. Das wir heute kaum mehr betroffen sind - dafür haben Zehntausende mit ihrer Gesundheit bezahlt.

Dass die Krankheit im Alltag nicht mehr wahrnehmbar ist heißt aber nicht, dass sie uns nicht mehr bedroht. Heute leisten wir uns – bislang folgenlos - in einem trügerischen Gefühl von Sicherheit einen recht nachlässigen Umgang mit der Impfung, sagt Dr. Peter Kaup, Hausarzt in Oberhausen. Impfpässe gerade bei Erwachsenen zeigten große Lücken. 2014 untersuchte vorsorglich das Robert-Koch-Institut Flüchtlingskinder, die aus Syrien nach Deutschland gekommen waren auf den Erreger - glücklicherweise ohne Befund. Wie schon einmal zuvor in Bosnien hatte ein Krieg die Impfprogramme unterbrochen und es waren wieder in diesen Ländern einzelne Fälle von Polio aufgetreten. Infizierte müssen nicht einmal selbst erkranken oder Symptome haben, um das Virus zu verbreiten. In unserer Gesellschaft trifft es auf ein möglicherweise nicht mehr ausreichend geschütztes Kollektiv, sagt Susanne Glasmacher vom RKI, wie auch bei Masern haben wir den Herdenschutz vernachlässigt. Was genau das bedeutet, wie es funktioniert und welche Folgen das hat zeigt ganz anschaulich diese Animation auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das aber beim Ausbruch in Berlin gerade viele Erwachsene nicht nur betroffen sind sondern sogar die Mehrzahl der Fälle stellen, die in Kliniken behandelt werden müssen, mag an dem mangelnden Schutz liegen: in der Gruppe der 30-39jährigen, so Glasmacher, gelten ganz unabhängig von irgendwelchen Überzeugungen nur 46,7 Prozent als hinreichend geimpft. 



Dieses Modell trifft sich mit einem anderen, hat eine Schnittmenge mit einem fundamentalen Prinzip unserer Gattung – des Nestschutzes, ein Antikörper-Reservoir, dass Neugeborene von ihren Müttern zunächst über die Plazenta dann – im Idealfall - die Muttermilch mitbekommen und das sie in den ersten Monaten vor Erkrankungen schützt. Eine Mutter, die selbst aber weder die Masern hatte noch sich hat impfen lassen, gibt ihrem Kind den Schutz vor diesem Virus nicht mit.

Der Masernausbruch in Duisburg 2006 zeigte, so Dr. Peter Seiffert, dass gerade die Gruppe der unter elf Monate alten kranken Babys (bis zu diesem Alter, so der Mediziner, sind Impfungen nicht aussichtsreich, weil offenbar die Immunreaktion zu schwach ist) die schlimmsten Folgeerkrankungen bis zur immer tödlich verlaufenden SSPE, einer Hirnerkrankung, erleidet. Diese Kinder sind ganz besonders darauf angewiesen, in einem Kollektiv zu leben, in dem immunisierte Menschen es wie ein beschützender Ring umgeben und so vor einer Ansteckung bewahren. Wer sich gegen eine Impfung entschieden hat, sollte also mindestens ein Jahr warten, bevor er sich und sein Kind in Kontakt mit Gleichgesinnten bringt und sich versichern, dass sein direktes Umfeld eine andere Meinung hat als er selbst und auch danach gehandelt hat – also geimpft ist. Tatsächlich, sagt Kinderarzt Seiffert, ist „die Gefahr groß für die Kleinen“.

Ob eine Impfpflicht möglicherweise rasch etwas ändert ist eher zweifelhaft. Es gibt Bedenken an der Rechtmäßigkeit einer solchen Regelung und auch Ärzte wie Dr. Peter Kaup lehnen eine Vorschrift aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Sie setzen auf Aufklärung und Einsichtsfähigkeit: da die Menschheit das einzige Reservoir für das Virus ist, läßt sich die Krankheit besiegen, die Nebenwirkungen der Impfung sind marginal, die Geschichte vom Autismus aufgrund des dreifach Präparats (Masern-Mumps-Röteln) längst widerlegt und sogar als von privatem Interesse getriebene Horrorgeschichte eines Mannes entlarvt, dem inzwischen die ärztliche Zulassung entzogen ist: „Wir impfen unsere Hunde und Katzen, warum also nicht uns?“

Das sind die Fakten, ein anderer Satz von Kinderarzt Peter Seiffert aber klingt bei mir besonders nach: „Eltern treffen eine Entscheidung, deren Folgen nicht sie sondern das Kind tragen und möglicherweise erleiden muß.“ Offenbar falle es manchen leichter, selbst die schlimmste schicksalhaft auftretende Krankheit auszuhalten als die „dumpfe Angst“, wie er sagt, zu besiegen, das Auftreten einer extrem unwahrscheinlichen Nebenwirkung zu verantworten.
Im Vermeidbaren allerdings steckt nichts Schicksalhaftes mehr; kein Kind muß das Risiko ertragen, einer jener etwa 1000 Masern-Kranken zu werden, die schwerste Schäden bis zum Tod davontragen.

Durch Impfungen vor Krankheiten geschützt zu sein, bezeichnen die Vereinten Nationen als Grundrecht aller Kinder. Dass es laut einer Veröffentichung zum Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung (s. 15)  offenbar einen Zusammenhang zwischen niedriger Impfquote und beruflich hoch qualifizierten Müttern (bei hoch qualifizierten Vätern steigt laut des Berichts die Quote; man könnte nun über möglicherweise tagelang nörgelnde, fiebrige Kinder während der erwünschten Immunreaktion nachdenken) ist da nur eine ganz erstaunliche Facette, in einem Verhalten, das Kinderarzt Seiffert bei den Dreharbeiten für einen Beitrag in der Aktuellen Stunde des WDR einfach „gemein“ nennt.

Zuletzt sah ich ein Kind mit Polio während einer Reportagereise 2010 im Norden Pakistans. Ein Junge, vielleicht 12, 13 Jahre alt, der in Nowshera mit den typischen Prothesen und Krücken über die Straße ging, während wir auf dem Weg ins Swat-Tal waren; soviel unnötiges Leid, soviel unnötig zerstörte Träume. Den Widerstand gegen Impfprogramme betreiben dort Taliban-Terroristen.

Aus den Tagen meiner Masernerkrankung erinnere ich mich an noch etwas; ich nahm die Zeitung immer wieder zur Hand und schlug hoffnungsvoll die Seite mit dem Foto von Karlheinz Köpke auf. Es war wie eine Verheißung, ein Tor in eine geheimnisvolle Realität. Doch er sprach nie mehr mit mir; damals war ich entäuscht, heute weiß ich, dass ich dankbar sein sollte.